Die Zeit der Richter und Denker
Amazon-Kunden ersetzen den Literaturkritiker. Das Internetforum den Arzt. Und auf Tripadvisor können wir alle Restauranttester spielen. Wo man früher auf den Rat der sogenannten Experten hörte, vertrauen wir nun dem Eindruck der Massen. Aber führt uns die Besserwisserei auch zu besserem Wissen?
"Jeder will mitmachen" lautet die Überschrift des Artikels, der heute morgen im Fueilleton-Teil der NZZ publiziert wurde. Ein interessanter Artikel, den ich gern gelesen habe. Auch wenn ich den Trend zum "Mitmischen" weder in amerikanischen Fertigbackmischungen der 50er, noch im zeitgenössichen Vogelhäuschenbau gespiegelt sehe.
Denn letztendlich geht es ja bei dieser Art von Mitmachkutur eben gerade nicht um "das Bedürfnis nach der realen, analogen Welt, nach einer zum Anfassen". Sondern um das Bedürfnis, sich im Internet zu produzieren. Seine Meinung kundzutun. Andere zu bewerten.
Viel mehr als zu amerikanischen Fertigbackmischungen oder zum Ikea-Effekt, lässt sich die Parallele darum meiner Meinung nach zu den vielen Jury-Shows ziehen, mit denen das Fernsehen die Zuschauer von Netflix zurückerobern möchte. Nicht nur wegen dem "Daumen hoch, Daumen runter"-Konzept, das das Publikum schon seit dem antiken Rom liebt. Sondern auch, weil da Bauarbeiter ihre Helme gegen Mikrofone, Kochschürzen und Businessverträge tauschen können - und den Amateuren die Bühne gehört.
Im Internet ist es das Gleiche: Es gibt jene Amateure, die ihre Küchen in Kochschulen, ihr Wohnzimmer in ein Fotostudio und ihr Auto in ein Uber-Taxi verwandeln. Und es gibt jene Amateure, die all das bewerten. Weil wir es lieben, wenn unsere Meinung etwas zählt. Und weil das Internet alles so schön ohne zu murren schluckt, wenn wir es füttern.
Natürlich liegt darin ein Problem. Wo jeder ohne Zugangsbeschränkung posten und schreiben kann, was er will, da gibt es viel Dummes zu lesen. Aber andererseits schützt vor Dummheit auch keine Qualifikation.
Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst zu dieser Generation der Richter und Denker gehöre. Jedenfalls ist mir der Glaube an sogenannte Experten irgendwo zwischen misslungenen Arztbesuchen und dem Studium abhanden gekommen.
Wo für meine Oma noch der Anblick eines weißen Kittels oder einer Robe ausreichte, um sofort das eigene Denken einzustellen, da stehe ich der Meinung von Ärzten oder Pfarrern sehr viel kritischer gegenüber. "Aber der das ist doch ein Studierter!", hat meine Oma immer gesagt. Ja, aber schau, wer alles studiert hat, und am Ende trotzdem nichts weiß.
Nicht, dass man mich falsch versteht. Koryphäen gibt es in allen Gebieten. Ich schätze Menschen, die belesen sind, die sich in ihrem Feld auskennen. Aber die gibt es in der digitalen Welt ebenso wie in der analogen. Und hier wie da besteht die Kunst darin, sie zu finden.
Sich einzulesen, bevor wir zu einem Arzt gehen, das Internet zu konsultieren, wenn wir ein Restaurant suchen, und Airbnbs zu buchen, die eine volle fünf Sterne-Bewertungen von mindestens soundsoviel Gästen haben, das alles kann sich bewähren. Vor allem dann, wenn wir uns vor Augen führen, dass uns auch in den konventionellen Reiseführern, Zeitungen und Arztpraxen immer nur die Meinung eines Einzelnen präsentiert wird.
Soll heißen: Von einem Anderen bewertet, wäre der neue Film im Feuilleton vielleicht gar nicht so zerrisen worden, wäre ein anderes Restaurant im Barcelona-Reiseführer gelandet. Und überhaupt hätten wir es im Internet sicher erfahren, dass der Koch dort schon im letzten Juli gewechselt hat.
Ist die Meinung dieses einen "Fachmanns" also so viel wertvoller als das Urteil der Masse ambitonierter Amateure, die ihre Rezensionen auf Tripadvisor, Amazon und Co posten?
Für mich als Buchautorin hat diese Frage natürlich noch eine ganz eigene Relevanz. Denn ich stehe ja nicht nur auf der Seite der Richter und Denker, sondern auch auf der Seite derer, die gerichtet werden. Auf der Talent-Show-Bühne, wenn man so will. Wo ich mich mit jedem neuen Buch wieder dem "Daumen-Hoch-Daumen-Runter"-Spiel der Jury und des Publikums aussezte.
Und eigentlich ist es da doch ganz beruhigend zu wissen, dass es nicht nur einen Daumen gibt, der sich da cäsargleich in die Luft reckt. Sondern viele, viele Daumen, in der Jury sowie rundum im Publikum.
Dass die Masse auch nicht immer Recht hat, darüber müssen wir nicht diskutieren. Aber da, wo wir Demokratie leben, da müssen wir heterogene Stimmen zulassen, auch über das Internet.